Nach der Blüte,

Mathias Hesseling,

Verlag Kettler, Dortmund

148 Seiten, Hardcover

ISBN-Nr.

978-3-86206-589-9

DIE LICHTABGEWANDTE SEITE DES GEWOHNTEN:

DIE BILDWELTEN VON MATHIAS HESSELING

 

Kunst ist nicht Abbildung, sondern Verwandlung: Je mehr Kunst ein Mensch betrachtet, desto klarer müsste ihm werden, dass die Wirklichkeit nur das Material für die Transformationen der Kreativität schafft – nicht das Wesen, nicht den Ausdruck. Auch die Pflanzen, die Mathias Hesseling für seine Fotografie und digitale Bildbearbeitung verwendet, sind im Urzustand andere. Heimische Blüten und Gräser, die sind, was sie nun einmal sind; hier am Strauch, dort am Boden; manchmal beachtet, öfter nicht. Warum auch? Der Mohn im Feld ist keine Sensation. Habichtskraut, Löwenzahn, Pusteblume, trockene Lilienblüten. Ihr Blühen und Vergehen findet gleich neben uns statt, provoziert aber nicht mehr unseren Blick.

Zu den Schattenwesen von Mathias Hesselings Kunst werden sie erst, wenn der Fotograf sie aufsammelt und einer neuen Bestimmung zuführt. Die Komplexität dieses Vorgangs kann ich nur ahnen. Es reicht ja nicht, im Wildkraut die Schönheit des biologischen Bauplans zu erkennen. Hier geht es um die Eignung als Mitspieler auf einer ganz anderen Bühne: „Nach der Blüte“, so der ebenso schlichte wie treffende Sammeltitel dieser Kunstwerke, beginnt ein Leben im Schattenreich, vor pechschwarzem Hintergrund, in absoluter Stille, fast möchte man sagen: Reinheit.

„Schönheit des Vergehens“, so betitelte der österreichische Schriftsteller und Büchner-Preisträger Walter Kappacher seine Fotos des abgestorbenen Schilfs in einem vereisten See bei Salzburg. Strebte der Fotograf Kappacher einen Gang durch die abgestorbene Pflanzenwelt im Naturzustand an, verfahren die Bilder von Mathias Hesseling radikal anders. Die atemnehmende Schönheit seiner Fotografie beruht auf Arrangement, formaler Balance und strenger Lichtregie in der digitalen Bearbeitung. Obwohl ich weiß, dass dies Bilder sind, die auf Fotos beruhen, empfinde ich die fertigen Kunstwerke fast als Skulpturen.

Es mag mit dem unendlichen Raum zu tun haben, den die Flächen suggerieren – als tauchten die Blüten nur kurz vor unseren Augen auf und als hätte der Künstler genau diesen Moment für uns festgehalten. Im Liebhaber des natürlichen Materials, so scheint mir, ist ein Anhänger der Abstraktion und des Minimalismus verborgen. Herumliegende Blütenblätter setzt Mathias Hesseling neu zusammen wie zum Mosaik. Stängel und Frucht der falschen Johannisbeere verwandelt er in einen Wald und damit in einen phantastischen Raum. Tod und Verkümmerung der nutzlos gewordenen Blüte werden absichtsvoll ins Bild gerückt: Der Lebenszyklus ist noch nicht zu Ende, wenn das verschrumpelte Ding am Boden liegt; der Fotograf kann sich erlauben, ihn da erst beginnen zu lassen. Wir sehen auf diesen Bildern gestaltete und gefilterte Natur – und können so als Betrachter den Baumeister Natur neu würdigen lernen.

Denn das sogenannte Naturschöne ist durch Kalenderästhetik, Kitsch und Sentimentalisierung – ich sage nur: Alpenpostkarte! – zum Wahrnehmungsklischee geworden. Wenn die Pracht des bunten Blumenstraußes noch erträglich ist, erzeugt die Pracht des Blumenbildes Überdruss. Aus gutem Grund. Wer heute noch alle seine Sinne beieinander hat, flieht vor der Banalität der millionenfachen Kopie.

Deshalb ist die Fotografie von Mathias Hesseling, obwohl ihr jede demon­strative Geste fremd ist, auch ein Protest. In einer bildgesteuerten, nach ständig neuen visuellen Reizen gierenden Welt führt sie uns, gewissermaßen auf der lichtabgewandten Seite des Gewohnten, durch ein persönliches und einzigartiges Universum. Darin treten manche Details klar und taghell hervor, während andere in der Unschärfe verschwimmen, als fände die Handlung dieser Fotos in der Tiefsee statt.

Schönheit braucht Beschränkung und sucht ihre Grenzen. Dem klaren Weiß der Pflanzenbücher setzt der Künstler das Schwarz der Dunkelkammer entgegen. Der alles ausleuchtenden Farbfotografie des Internet das verhaltene Kunstlicht seines ästhetischen Blicks. Hier herrschen meditative Ruhe, Geheimnis und mehr als nur ein Hauch des Umheimlichen. Hier regiert die Nacht. Mathias Hesselings Wesen sind faszinierende Geschöpfe, die zwar fast jedes Detail zeigen, aber immer einen Rest Rätsel bewahren.

 

Paul Ingendaay

Quelle: Nach der Blüte, Mathias Hesseling, Verlag Kettler, Bönen